Kältefragen


Ich weiß nicht, was es ausmacht, ob es die Weite ist, die Unendlichkeit des Wassers über die Grenze des Horizonts hinaus, das Wissen, dass Wasser nicht mein Revier ist, dass ich nach kurzer Zeit blau vor Kälte werden würde, mich selbst in Gefahr begäbe. Und falls ich rauskäme, würde der Wind und die Luftkälte meinen Körper zum Zittern bringen. Während die Lachmöven entspannt und gemütlich wie auf beheizten Luftmatratzen stundenlang auf dem Wasser dümpeln. So kleine Tiere schaffen das, ohne blau zu werden. Ohne zu erfrieren. Sie haben kein dickes Fell an den Füßen, sie sind stundenlang mit dem Bauch im Wasser – und ich stelle mir jedes Mal die Frage, warum sie nicht frieren.
Aber wer weiß, vielleicht tun sie es ja und sie haben nur einfach keine andere Wahl und sind auch nicht zufrieden mit der Dauerkälte. Die Gelbschnabelsturmtaucher auf den Kanaren kommen mir wieder in den Kopf. Sie bleiben den ganzen Tag über auf dem Meer, kilometerweit von der Küste entfernt, wo ihr Nachwuchs in den Klippen hockt und auf Essen wartet. Pünktlich, wie ein Uhrwerk, kehren die Elterntiere laut quäkend am Abend zurück. Immer im gleichen Zeitraum. So beeindruckend. Schließlich haben sie keine Armbanduhr, keinen Wecker, der sagt, „nun wird es Zeit, wenn du um halb zehn bei deinem Nachwuchs in den Klippen sein möchtest, musst du genau jetzt losfliegen“. Wie schaffen sie es, jeden Abend zur ungefähr gleichen Zeit da zu sein?
Wenn ich auf dem Meer wäre, ohne Landsicht, ohne Navi, ohne Boot und ohne Kapitän, der weiß, wie es geht…oje. Aber diese kleinen Tiere schaffen es. Ja, ich weiß, die Biologen können das erklären – wahrscheinlich mit der Orientierung an den Sternen, der Sonne oder dem Mond… und irgendwas mit dem Blutkreislauf. Ich googele das jetzt mal nicht. Diese Ergebnisse wären hochspannend, aber ich will einfach in diesem Gedankenmodus bleiben und diesen faszinierenden Moment weiter genießen.

Foto: Sonja Rätzel, Ostsee 2023