Smile

Was für ein Zauber. Was für ein Gefühl. Mal irritierend, mal entwaffnend. Mal empfangend, mal gebend. Wärmend. Wohltuend. Wir können es tun, indem wir Smileys nutzen oder es „in Echt“ tun. In Echt ist es natürlich viel schöner, wie ich finde. Es kostet nur ein klein wenig mehr Mühe, als ein Knopfdruck mit dem Daumen. Unser Körper muss nur ein bisschen arbeiten und seine Muskeln sich bewegen lassen. So viele sind es ja nicht. Und von Muskelkater oder Zerrungen im Gesicht habe ich noch nicht gehört, wenn man lächelt. Von einem ganz bisschen die Mundwinkel hochziehen.

Lächeln bewegt mich schon seit rund 30 Jahren. Also als ich Mitte zwanzig war und in Australien auf einen Zug wartete. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wartete eine Frau auf ihren Zug oder auf Ankommende. Ich weiß es natürlich nicht, warum sie dort stand. Ich weiß nur noch, dass unsere Blicke sich begegneten. Und ich natürlich, wie ich es damals verinnerlicht hatte, schnell wegschaute. Aber ich blickte doch neugierig zurück oder sah es aus meinen Augenwinkeln: Sie lächelte mich an. Unglaublich. Einfach so. Ich weiß nicht mehr, welche Haarfarbe sie hatte, wie sie angezogen war, wie groß sie war. Ich habe diesen bewegenden Moment nie vergessen, er begleitet mich in den ganzen zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten. Und ich frage mich, wer sie wohl war, wie alt sie war. Zwanzig, fünfzig, siebzig? Und was sie jetzt wohl macht. Falls sie damals schon siebzig war, wird sie nicht mehr leben. Rein rechnerisch wahrscheinlich eben. Vielleicht war sie auch einfach nur über beide Ohren verliebt und wartete auf ihren Liebhaber, der sie mit einem Rosenstrauß in der Hand zur Begrüßung küssen und umarmen würde, und ich bekam ihre verliebte Vorfreude mit einem Lächeln zufällig geschenkt. Ich würde es ihr gern erzählen, was ihr Lächeln, das sie mir vom gegenüberliegenden Bahnsteig vor 30 Jahren einfach so schenkte, bei mir bis heute bewirkt. Heute würde ich ihrem Blick nicht mehr ausweichen, sondern sie aus dem Herzen zurück anlächeln. Oder zuerst lächeln. Und ihr einen Blumenstrauß schenken.

Bild: Sonja Rätzel, 2024